Das Spiegel-Bild
Sie stand vor dem Spiegel und schaute herein: Müde sah sie aus und kaputt. Als hätte sie einen langen Tag hinter sich, dabei war es früher Morgen. Sie hasste es, so auszusehen. Hässlich und verbraucht.
Sie war einfach nur so herumgelaufen, um nachzudenken, als sie plötzlich vor diesen hell erleuchteten Schaufenstern stand, die ihr sanftes Licht auf die verlassene Straße strahlte.
Schöne Bilder lagen aus, Naturbilder von phantastischer Schönheit. Ohne zu zögern trat sie durch die Eingangstür und eine leise Glocke begleitete ihren Eintritt.
Sie schlenderte langsam durch die Ausstellungsräume und stand unvermittelt vor einem überlebensgroßen Bild. Verwundert blieb sie stehen. Was war das für ein rätselhaftes Bild?
Es zeigte einen Spiegel, doch gleichzeitig schien es ein Fenster zu sein. Sie blickte durch den Spiegel auf eine Landschaft, die anders war, als alles, was sie jemals gesehen hatte: Es zeigte zerklüftete Berge von dennoch zarter Schönheit, die sich schützend um einen See gruppierten. Auch der See war anders: Er schien sehr tief zu sein und gleichzeitig ganz flach. Grün war er – und blau. Ein leichter Rotschimmer befand sich je nach Blickinkel ebenfalls darauf. Drumherum, einzeln und in Gruppen, standen Bäume. Manche waren krumm und alt und schienen zu sterben, manche waren plump und fast kahl. Andere wiederum erstrahlten in voller Blüte. Die Wiese, auf der sie standen, war von wilder Schönheit und Blumen aller Farben und Arten wuchsen ungebändigt überall.
Was bedeutete diese Landschaft, die so eine unbeschreibliche Tiefe und Freiheit auszustrahlen schien, in einem einfachen Spiegel? fragte sie sich.
Suchend blickte sie sich um, als ihr plötzlich ein kleines Schild ins Auge fiel. „Spiegel der Seele“ stand darauf. Darunter war eine kleine Erklärung befestigt: „Ein jeder Mensch hat eine äußere Hülle,“ hieß es da, „doch darunter verbirgt sich viel mehr. Diese innere Schönheit, diese Seelenlandschaft habe ich versucht abzubilden.“
Verwundert betrachtete sie das Bild erneut. Erst jetzt bemerkte sie den Schatten eines menschlichen Körpers, der ganz leicht an einer Seite des Bildes angedeutet war. Sie betrachtete das Bild weiter und nach einer langen Zeit verließ sie selig die Galerie.
Und mit ihr verschwand auch der Schatten von der Leinwand.
Von mir^^