Essstörung und wie man hineingerät

  • Hallo,
    ich schreibe hier ins allgemeine Forum, da ich hoffe, dass möglichst viele Menschen das hier lesen - meine Lebensgeschichte, die ich mir nun endlich von der Seele schreiben möchte.
    Vorab sei gesagt, dass ich auch jetzt nicht dick bin, da ich fast 20 Kilo zugenommen habe.
    Also gut.


    Ich war immer ein sehr dünnes Kind - dünn ist gut gesagt, mager war ich! Ich aß einfach kaum, weil mir nichts schmeckte. Essen war für mich eine Qual, ich saß 4 Stunden am Mittagstisch und brachte nichts runter. Essen war schlicht und einfach langweilig für mich.
    Meine Mutter ist eine außergewöhnlich hübsche, noch junge Frau, die sehr auf ihre Figur achtet. Sie war, so scheint es mir, immer sehr stolz auf ihre kleine, zierliche Tochter (ich erinnere mich daran, wie wir einkaufen gegangen sind - ich hasste es - und mir nix passte, weil alles an mir runterhing, besonders Hosen - meine Mutter genoss es förmlich, wie die Verkäuferinnen nach engerem und engerem Gewand für mich suchten).


    Gut. Ich wurde 11, ich wurde 12, ich wuchs meiner Mutter über den Kopf und schaute "weiblicher" aus. Ich nahm zu, weil meine Freundinnen alle ausgesprochen gerne aßen und ich nun auch Schokolade, Hamburger & Co schätzen lernte :) Trotzdem war ich immer noch schlank.
    Meine Mutter fand wohl, dass "schlank" nicht ganz so toll wie "sehr dünn" war und fing an, spitze Bemerkungen über meine Figur fallen zu lassen. Na toll. Zum ersten Mal in meinem Leben betrachtete ich mich kritisch im Spiegel und stellte fest, dass ich "Hüften" und "Busen" besaß. (Nur zur Orientierung, damals wog ich ca. 45 Kilo bei 1,55m)
    Meiner erste "Diät" folgte. Diese bestand darin, dass ich mir alle Süßigkeiten strikt verbot und stattdessen Honigbrote aß, weil ich glaubte, die seien "gesünder". Vorher hatte ich am Tag vielleicht ein Knoppers oder 1 Rippe Schokolade gegessen, nun fraß ich aus lauter Furcht, zu Süßigkeiten zu greifen, 4 bis 5 Honigbrote. (Nun muss ich fast lachen, wie naiv ich war - na ja, ein Kind eben).


    Ich nahm langsam, aber stetig zu (und wuchs natürlich auch noch) bis ich mit 15 Jahren 56 Kilo auf 1,62m wog. Eigentlich eine sehr harmonische, ausgewogene Figur - mir passte Kleidergröße 36 tadellos.
    Dennoch wurden die Bemerkungen meiner Mutter immer gehässiger ("du frisst zu viel", "hast aber ganz schön zugenommen", "sag mal, wie viel wiegst du jetzt eigentlich - mehr als ich?") Ja, ich wog 2 Kilo mehr als meine Mutter, die fast 10 Zentimeter kleiner war. Toll. Von da an schien meine Mutter die gemeinsamen Mittagessen als Wettkampf zu betrachten. Jedes Salatblatt, das ich aß, wurde auf die Goldwaage gelegt.


    Es reichte mir.
    Zuerst hörte mit den Honigbroten auf. Dann strich ich das Frühstück. Dann ersetzte ich die Schuljause durch einen Apfel. Anschließend strich ich das Abendessen ersatzlos. Und zum Schluss aß ich das Mittagessen nur zur Hälfte.
    Ich nahm ab, ich nahm rasant ab - 1 bis 2 Kilo pro Woche. Jeden Tag schlich ich auf die Waage und freute mich unsagbar, wenn wieder 200 Gramm weg waren.
    Und das Beste war: Meine Mutter sah mich anerkennend an und fragte mich, wie ich das nur geschafft hatte.
    Ich fand es zwar merkwürdig, dass niemand bemerkte, wie ich weniger und weniger aß, aber es störte mich nicht besonders. Ich war höchstgradig magersüchtig.


    Innerhalb von 6 Wochen hatte ich 12 Kilo abgenommen. Anschließend konzentrierte ich mich nur darauf, meine nun 48 Kilo zu halten, nahm aber trotzdem noch immer langsam ab, obwohl ich glaubte, dass ich wahnsinnig viel aß (wenn ich ein ganzes Brötchen gegessen hatte, glaubte ich, ich hätte einen Fressanfall gehabt :D )
    Schließlich hatte ich 42 Kilo auf 1,62m, was ziemlich genau einen BMI von 16 ergibt.


    Meine Mutter erklärte, ich sähe blendend aus.
    Meine beste Freundin allerdings sagte, sie mache sich sehr große Sorgen um mich, da ich schlecht aussähe. Ich sei viel zu dünn und sollte doch bitte, bitte wieder was essen.


    Sie weinte dabei fast, und ich machte mir ernsthafte Gedanken über meine Gesundheit (meine Periode war seit einem halben Jahr ausgeblieben, und ich fühlte mich ständig kraftlos. Wenn ich die Treppe runterging, musste ich jedesmal einige Minuten warten, weil mir so schwindlig war. Meine Kehle war trocken und brannte, denn ich steckte mir manchmal den Finger in de Mund, wenn ich bloß einen Kaugummi verschluckt hatte. Mehrmals am Tag kippte ich um).
    "Einmal", sagte ich zu mir, "wird dir schwarz vor den Augen und du wachst nicht mehr auf."


    Ich fing wieder an zu essen - kein Frühstück zwar, aber ich zwang mich, zum Abendessen wieder Müsli oder Suppe "mit Inhalt" zu essen. Nach einigen Wochen hatte ich mich so weit, dass ich Brot mit Belag essen konnte.
    Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass mein Stoffwechsel komplett im Eimer war (teilweise hatte ich mehrere Tage lang komplett auf Essen verzichtet), mein Körper hortete jedes Gramm, das er kriegen konnte.
    Ich nahm also ziemlich rasch wieder zu.
    Zum Glück war der Jojo-Effekt nicht allzu schlimm, so dass ich nun auf 60kg bei 1,62m einen halbwegs gesunden BMI von 22,8 habe.


    Leider allerdings gelingt es mir nicht, mich wohlzufühlen.
    Meiner Mutter fiel es zwar nicht auf, als ich gar nichts aß, aber als ich plötzlich wieder damit anfing, war ihr jeder Bissen zu viel.


    Ich bin unglücklich, denn ich weiß, ich werde nie wieder ein normales Verhältnis zum Essen aufbauen. Egal was ich esse, ich zähle die Kalorien in meinem Kopf automatisch mit (ich weiß die KCal von fast jedem Produkt auswendig).
    Wenn ich Menschen sehe, die dünner sind als ich, zermartere ich mein Gehirn mit Selbstvorwürfen; wenn ich Menschen sehe, die dicker sind als ich, triumphiere ich. Das sind Überbleibsel meiner "Ich-ess-nix-mehr-dann-wird-das-Leben-besser" Zeit.
    Ich kann noch immer nicht vor fremden Menschen essen, ich kann es nur im Kreis der Familie. Ich vertrage kein Fleisch und keine Milch mehr, von allzu Fettigem muss ich mich manchmal übergeben (ohnehin bekomme ich jedesmal, wenn ich mehr als 600-700 Kalorien auf einmal gegessen habe, Brechreiz - mein Körper hat auf automatisch gestellt).


    Deshalb möchte ich allen raten, die eine "Diät" beginnen wollen, es bleiben zu lassen. Wenn man es übertreibt, kann es verdammt gefährlich sein.
    Ah ja: Ich war während meines Abmagerns sehr, sehr unglücklich. Ich schob das darauf, weil ich ja noch zu "fett" war. Der Hauptgedanke, den ein magersüchtiger Mensch (und wahrscheinlich auch viele übergewichtige Menschen) hat, ist "irgendwann bin ich dünn genug, und dann bin ich glücklich".
    Dieser Gedanke ist schlichtweg falsch. Ich wäre niemals dünn genug für meine Anforderungen geworden, niemals.
    Wenn man noch die Hoffnung hat, das Leben könnte irgendwann besser oder schöner werden - ja, dann habt ihr nur jetzt die Möglichkeit dazu.

  • Liebe Seraphim,


    danke für deine ausführliche Schilderung! Ich bin ziemlich betroffen, gleichzeitig freue ich mich, dass du nun anscheinend "stabil" bist. Ich hoffe, dass die Spätfolgen der Magersucht irgendwann wieder besser werden. Vor allem hoffe ich, dass DU glücklich bist und dich von der Meinung deiner Mutter unabhängig machst.


    Liebe Grüße
    Milch

  • hallo, das ist ja eine gruselige geschichte, die du da durchlebt hast... entschuldige, wenn ich das so offen sage - aber deine mutter hat echt'n sockenschuss... in meinen augen ist SIE VOLL verantwortlich für deine essstörung, welche gründe sie für ihr verzerrtes weltbild hat, ist allerdings IHR problem und nicht DEINES. du hast mein mitgefühl, weil du von deiner mutter nie wirklich wahrgenommen worden bist, lediglich deine hülle war "interessant".


    ich finde es bemerkenswert, daß du schon so viel über die zusammenhänge herausgefunden hast und nun auf dem weg zu dir selber bist - mach weiter so.


    liebe grüße
    Stöpsel

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