Die "Funktion" der Pfunde

  • Gestern - war es gestern? ...Hm.. Wie dem auch sei, ich antwortete auf einen Thread hier im Board der "Meine Geschichte" heißt und im Lesen der dortigen Postings, erinnerte ich mich an eine Zeit in meinem Leben, als mich mein Äußeres noch wesentlich mehr belastete als heute. Eine Zeit, als ich noch im permanenten Kleinkrieg mit meinem Körper lag und den Fehler beging, MICH, also all mein Sein, nur darüber zu definieren, wieviel ich auf den Rippen habe. Wobei mir rückblickend aufgefallen ist, dass ich zu dem Zeitpunkt eigentlich gar nicht sooo viel zu viel hatte. Nun ja, also ich erinnerte mich und mit dieser Erinnerung ging ich zum Regal und nahm eines der alten Tagebücher heraus, das aus der Therapie.. und darin fand ich dann das Folgende:

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    - Und so hab mich gepanzert, gegen jegliche Gefahr. Gegen alle Widerstände mich verschanzt. Tief hinter fluffig weiche Berge, zog ich mich zurück zu mir. Hierher kann man mir nicht folgen, hierhin lass ich
    niemanden herein, keiner soll dies Reich betreten, hier alleine darf ICH sein.
    - Der kalte Stahl so vieler Worte, lässt mich immer weiter gehn, tief hinein in diese Zuflucht, weg von diesem fürsorglichen Krieg. Dort wollen alle nur mein Bestes, dort soll ich ganz im Leben stehn, dort soll ich lächelnd funktionieren und in konformer Reihe gehn.

    Leckt mich doch einfach mal am Arsch.
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    Ja, ich denke das ist in meinem Falle einer der Hauptgründe für mein Übergewicht, die Funktion als quasi Schutzwall. Das Essen hatte Trostfunktion und die daraus resultierende Speckschicht war (und ist z. T. bis heute) eine Art Panzerung. Und im Zuge dieses Gedankenganges, kam mir wieder einmal dieser unselige Kreislauf ins Gedächtnis, der damit beginnt, dass mit jedem Kilo die Stimmen in der Umgebung lauter werden. All die wohlmeinenden, stichelnden, verletzenden, vorwurfsvollen, herablassenden Stimmen, denen man es nicht wagt böse zu sein, denn sie habe ja Recht, so meint man.

    Diese Stimmen, die einem in hundertfacher Ausführung, das sagen, was man eh schon zu wissen meint, nämlich dass man so, also SO, doch niemals wird glücklich und zufrieden sein können. Dass man sich pflichtbewusst klar zu machen habe, wie sehr man seine Umgebung verletzt, all diese wohlmeinenden Menschen. Sie sorgen sich um die Gesundheit, da man selbst es nicht tut in grenzenloser Ignoranz und verfressener Unbeherrschtheit. Sie schämen sich für einen, weil man das Gesundheitssystem belastet und beim Treppensteigen keucht und schwitzt. Sie sind immer da und zu tiefst empört, wenn man sie auffordert zu gehen. Das sei dann der Dank...

    Ja, verdammt! DAS IST DER DANK! Fic** Euch!

    Denn dieser Kreislauf, er lebt von diesen Stimmen. Zuerst machen einen das Gestichel und die Verbote unglücklich und man tröstet sich mit Essen. Die Stimmen werden lauter mit jedem Kilo und man selbst wird somit unglücklicher und tröstet sich immer mehr. Und immer so weiter.

    Ich habe all diese Stimmen aus meinem Leben geworfen, schon vor langen Jahren. Und im Niederschreiben dieser Zeilen, stelle ich voller Überraschung fest, dass mich allein die Erinnerung an all diese wohlmeinenden Ar****l***** noch immer zornig werden lässt. Ja, ich brauchte meine Zuflucht hinter all den Bergen aus Kummer, manifestiert direkt an meinem Leib. Und so lange es diese Stimmen geben wird, so lange wird es auch immer wieder Menschen geben, denen es ähnlich ergeht wie mir.

    Unweigerlich.

    Somit lassen wohl in vielen Fällen, all die überbersorgten, wohlmeinenden Stimmen, das Problem erst entstehen. Die Frage ist, wo zu brauchen sie das Problem? Brauchen sie wen auf den sie zeigen können? Ist Hilflosigkeit verwandt mit Herrschsucht? Was ist es, was Familien da zu treibt, ihre oftmals völlig normalgewichtigen Angehörigen, so zu drangsalieren, dass aus ihnen, gerade erst dadurch, dann tatsächlich dicke Menschen werden?

    Wer hat hier eigentlich wirklich das Problem? ..

  • Vor einiger Zeit las ich das Buch von Allan Carr "Endlich Nichtraucher" (was ich mittlerweile auch tatsächlich weitestgehend bin). Gut, es hat ihn dennoch erwischt, ironischerweise starb er an Lungenkrebs, allerdings wurde er 72, was m.E. ganz ordentlich ist. Ich mag dieses Buch, auch wenn es sich teilweise liest, wie der Vortrag eines Marktschreiers auf dem Hamburger Fischmarkt.

    Denn zwischen all dem Lauten, Plakativen, finden sich darin Passagen von einer tiefgreifenden Einsicht, die ich empfinde wie Leitlinien. Wie etwas, an dem man sich festhalten kann in schwachen Momenten... kleine Lichter in der Dunkelheit. Und das, ja, diese kleinen Lichttupfer, die der Herr Carr da vereinzelt zwischen all dem literarischen Geschrei so von sich gibt/gab (Gott hab ihn selig), sie sind es, die mir im Gedächtnis blieben.

    Eines dieser Lichterchen ist nicht nur in Punkto Rauchen anwendbar. Es besagt, dass man einen Raucher nicht vom Rauchen kuriert, indem man ihm mit Krankheit droht. Denn all die Vorträge in den Medien, all die Sprüche auf Zigarettenschachteln und Horrorbilder an allen Ecken, führen in unweigerlicher Logik da zu, dass der Raucher immer mehr rauchen wird. Also zum genauen Gegenteil. Warum? Nun, sage einem Raucher: "Du wirst daran sterben." - und was wird er wohl tun? Richtig - er zündet sich erst einmal eine an, vor lauter Panik, sprich Stress -- "auf den Schock".

    Und... was wird wohl ein Stressesser tun, wenn man ihm sagt, dass er daran sterben wird?

    Manchmal frage ich mich, wie merkbefreit man sein kann...

  • Da hast du den Nagel aber mal auf den Kopf getroffen.


    Dass die Pfunde bei mir auch eine gewisse Schutzfunktion haben, hab ich auch vor ein paar Jahren festgestellt. Leider kann ich nicht von mir sagen, dass ich die fiesen Stimmen ignorieren kann...und der Schutz ist irgendwie immer noch nötig (leider).


    Vielleicht brauche ich es ja eines Tages nicht mehr.

  • (..)...und der Schutz ist irgendwie immer noch nötig (leider).

    Vielleicht brauche ich es ja eines Tages nicht mehr.



    Ich tippe dir jetzt noch etwas aus einem alten Tagebuchschätzken ab. Vielleicht kannst du damit etwas anfangen. ;)

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    "Masse(n)-Phänomene"
    Wenn ich meinen Kater anfasse, der überaus dick ist und fluffig weich, so ist das immer viel näher, als das vorsichtige Streicheln meiner filigranen Katze. Es ist anders, irgendwie intensiver, da unbedachter. Ich kann genüsslich mein Gesicht und meine Hände in dem kuscheligen Bauchfell vergraben, spüre das schnurrende Vibrieren und bin immer wieder hin und weg vor lauter Liebe, zu diesem vierpfotigen Kleinod das mit mir hier wohnt. Ich habe einen ähnlichen Effekt der Nähe auch bei Hunden, großen und dicken Hunden um genau zu sein.

    Immer wieder stelle ich fest, dass ich mit Wesen, deren Körper im weitesten Sinne "ausufernde" Ausmaße aufweisen, viel mehr anfangen kann, als mit kleinen, zierlichen Erdenbewohnen. Zumindest wenn es um Körperkontakt geht. Natürlich bewundere ich z. B. Kolibris, aber eben nur aus der Ferne. Oder die zerbrechliche Schönheit erhabener Blüten, aber wer umarmt schon Blumen und sucht dort Wärme? Größe und Breite, das ist warm, kuschelig und geborgen, das mag ich!

    Gestern stand ich nackt vor meinem Spiegel. Ich legte meine Hände auf meinen warmen, runden Bauch, schloss die Augen und begann mit sanften, massierenden Bewegungen. Konzentrierte mich auf das was ich an meinen Fingerspitzen und unter meinen Handflächen spürte. Langsam glitten meine Hände zu meinen Hüften, dann zu meinem Hintern, zurück zu den Oberschenkeln, über den Bauch, hoch zu meinen Brüsten und zu meinem Hals. Ich öffnete die Augen, sah mich an, sah MICH an, zum allerersten Mal wirklich, schaute ICH mich in diesem Spiegel an, lächelte schief und erklärte der Person im Spiegel, dass sie sich gut anfühlt. Weich und warm und kuschelig... ein Körper der Geborgenheit ausstrahlt. So wie mein wunderbarer Knuddelkater. So wie diese herrlich knuffeligen, großen Hunde die ich so mag. Geborgenheit gebend, so wie die Menschen die ich liebe ...

    Und zum ersten Mal fragte ich mich, warum ich nicht sein mag, wie das was ich liebe? Warum ich nicht liebenswert sein mag?

    Und dann habe ich mich in meinen dicken Bademantel gekuschelt und um mich geweint.
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    Es ist ein langer Weg, weißt du. Aber wenn man ihn lange genug geht, kommt man sich immer näher. Wird sich selbst immer gerechter und damit zufriedener. Frieden, man schließt ihn mit sich selbst. Etwas das so viele andere Menschen, haben sie auch Modelmaße, nicht für sich erreichen. Dieser Kampf, dieser Weg, er ist auch eine Chance, so wie jedes Problem... :)

    LG

  • Ich kann nicht mehr schlafen. Für einen ebay-Süchtling wie mich, ist das eigentlich kein Problem, treibe ich mich halt auf dem virtuellen Marktplatz herum und schaue was es zu ergattern gibt. Allerdings bin ich heute mit dem Kopf woanders. Das Stöbern in den alten Tagebüchern hat mich aufgewühlt, bringt alte Erinnerungen zurück und ich fahre ein bisschen Kopfkino. Ich spreche nicht mehr oft über Vergangenes, betrachte abgehakte Dinge wie abgelegte Kleidung, die einfach nicht mehr passt. So passen auch die alten Glaubenssätze nicht mehr zu mir. Die, die sich um Scham drehten, um Zwänge, Konventionen, die Erwartung anderer Leute und das Missempfinden, für Liebe und Zuneigung mich verbiegen zu müssen.

    Ich habe das gehasst. Ich habe mich gehasst, weil ich mich wie eine Bettlerin gefühlt habe, eine Bittstellerin, die sich artig für jede Freundlichkeit bedanken muss, denn schließlich hatte ich diese ja gar nicht verdient. Als mein damaliger Psychologe mir einmal sagte, dass ich doch ein Recht auf Liebe und Akzeptanz hätte, ein naturgegebenes Recht auf Achtsamkeit und darauf "hier zu sein", da schrie ich ihn an, er solle mich doch nicht verarschen und brach danach in Tränen aus. Erinnerungen...

    Aber es gab auch Schlüsselerlebnisse, solche die mich regelrecht umhauten und mir innerhalb von Sekunden völlig neue Einsichten bescherten. Einen solchen Moment verdanke ich.. ähm, ich habe tatsächlich ihren Namen vergessen, es ist auch schon lange her.. ich glaube sie hieß Yvonne, ich würde es aber nicht beschwören. Ist auch nicht wirklich wichtig, denn an den Moment und was ich dabei fühlte, erinnere ich mich um so deutlicher. Also nennen wir dieses magersüchtige, bulimische Mädchen halt Yvonne, diese 19Jährige, die bei ihrer Größe von ca. 1,75 m noch knappe 50 Kilo auf die Waage brachte.

    Mit mir in einer sogenannten Essgruppe, war sie für mich irgendwie der Inbegriff einer verlorenen Seele. Ständig fror sie, schaute aus großen blauen Augen permanent gehetzt in die Welt.. alles an ihr war filigran und kalt. Oft stahl sich während der Essgespräche ihre Hand in meine. Rollten sich ihre langen, schlanken und viel zu kühlen Finger, in meiner warmen Handfläche ein: "Du bist sooo schön warm."... Ich ließ das zu, auch wenn mir diese Kontaktsuche nicht wirklich geheuer war. Sie wirkte auf mich wie ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen und ich mochte sie einfach nicht abweisen, auch wenn ich immer unsicher war was sie von mir erwartete.

    Dann kam der Tag an dem ich entlassen wurde. Ich ging raus in den großen Garten der Klinik um mich von meiner Gruppe zu verabschieden, da stürzte Yvonne auf einmal auf mich zu und warf sich einfach mir in die Arme. Ich stand völlig belämmert da und legte vorsichtig die Arme um sie. Ich hatte sie noch nie wirklich im Arm gehabt und das Gefühl ich würde womöglich etwas kaputt machen, sie war so schlank, dass ich wirklich jeden Knochen hätte tasten können. Aber so schlank wie sie war, so geschmeidig war sie irgendwie und sie schmiegte sich an mich wie eine Katze. Und dann flüstete sie mir ins Ohr: "Hmmmm... das ist sooo schön. Du fühlst dich soo gut an. .."

    Als wir uns schließlich losließen, eine gefühlte Stunde später und noch um die Aussagen von ihr reicher, dass sie sich so geborgen fühlen würde bei Menschen wie mir und mich schrecklich vermissen würde, da weinten wir beide so vor uns hin. Ja, und ich wusste, zum ersten Mal in meinem Leben zu 100% und unumstößlich, dass ich Recht hatte, wenn ich mich gut fühlte in diesem, meinem Körper. Dass nicht nur ich es so empfand, dass ich nicht (mehr) alleine war mit dieser Wahrnehmung. Etwas, das ich nie wieder vergessen habe. ..

  • @s.naumann


    Danke für den Ausschnitt aus deinem Tagebuch. Ich werde es sicher auch schaffen, mich so zu mögen, wie ich bin und meinen Selbstwert nicht mehr so sehr an den Äußerlichkeiten fest zu machen.


    Wirklich inspirierend für mich, was du zu so späten Stunden hier so schreibst.
    Danke nochmal :)

  • Deine Geschichte hat mich sehr berührt ............................!


    Sie ist schön und wahr ... und zeigt, daß es verschiedene Sichtweisen gibt, die man sich vorher selber gar nicht hätte vorstellen können.
    Vielleicht auch, dass man sich selbst z. T. auch zu etwas degradiert, was man für andere eigentlich gar nicht ist ....


    Danke für diese schönen Zeilen :o


    Greetings,
    Ruby

  • Vielen Dank für diesen (sehr persönlichen) Einblick.
    Er hat mich sehr berührt und ich finde mich in diesen Beschreibungen sehr stark wieder.
    Wow. Ähm, ja. Grad echt heftig. Muss ich mal ne Runde drauf rumdenken.

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