Die Grenze

  • Hallo liebe Forengemeinde,


    bin ja sonst eher ein "harter Brocken" und kann auch viel ab, aber heute muß ich mal ne Runde abheulen.


    Ich arbeite (wie einige vielleicht schon wissen) im Vorzimmer einer Verhaltenstherapeutin. Ich bin u.a. auch für die Terminvergabe und Neuzugangabwicklung (entschuldigt dieses "Unwort", aber ich tue mir heuer etwas schwer mit dem Denken *schiefgrins*) zuständig.


    D.h. ich rufe die Leute zurück, die uns auf den AB gesprochen haben und kläre sie über Wartezeiten, Praxisgebühr, evtl. Therapieverlauf, Rücktrittsrecht ect.pp. auf. Alles easy.


    Ich rufe also heute eine Dame an, die uns die Woche aufgesprochen hatte und hatte das heulende Elend am Apparat.


    Die Gutste war absolut fertig - wirklich absolut fertig!!! Sie hat vor weinen kaum ein Wort herausbekommen und war völlig am hyperventilieren.
    Ok, das kenn´ich ja schon und kann die Leute i.d.R. einigermaßen beruhigen. Aber sie sagte: Ich kann nicht mehr - ich bring mich um!


    Und sie meinte das genau so!!!


    Ihr Mann hatte sie nach 20 Jahren Ehe morgens zu einem Termin gefahren und ist dann heim, seine Koffer packen. Hat ihr noch einen Zettel hingelegt, der ihr mitteilte daß sie sein Leben zerstört hätte und er sie nun verlässt.


    Sie verkraftet das nicht (ich mein - das ist ja auch ein starkes Stück!!) und denkt, daß mit dem Tod ihre Probleme vorbei seinen und das für sie die beste Alternative ist.


    Ich habe über eine Stunde mit der Dame am Telefon gesprochen und am Ende jemanden aus ihrer Verwandtschaft aufgetrieben, der sie zum Arzt (wegen Beruhigungsmitteln) fährt und sich dann um sie kümmert übers Wochenende.


    Das hört sich jetzt vielleicht gar nicht so dramatisch an wie es war - aber heute habe ich mich das erste Mal gefragt, ob dieser Job wirklich das richtige für mich ist.


    Ich bin ja keine Psychologin und habe nicht studiert, wie man sich in solchen Fällen verhält.


    Ich bin heute absolut an meine Grenze gestossen.


    Gruß
    AlexP.

  • Zitat

    Hast Du mit Deiner Chefin darüber gesprochen ?

    Ja, so zwischen Tür und Angel. Das Problem bei uns ist, das sie ja eine Stunde nach der anderen abreisst und dazwischen kein Leerlauf ist. (Das ist eigentlich ganz schön doof aber naja - das möchte sie so)


    Und ich um eine bestimmte Zeit gehen muß um mein Kind von der Schule zu holen.


    Also können wir vieles nicht immer so ausführlich klären. Sie war auch nicht wirklich eine Hilfe, das muß ich mal sagen.


    Na, morgen ist ein neuer Tag und wenn sie das Wochenende überstanden hat, sieht die Welt vielleicht schon ein klein bisschen besser aus...


    Dir auch ein schönes Wochenende Barbara und "Danke" für den Knuddler...


    Gruß
    AlexP.

  • Liebe Alex,


    als Erstes: Mein Beileid! Dieser enorme (Verantwortungs-)Druck, unter dem Du heute gestanden hast, reicht sicher aus, so manchen an seine Grenze zu treiben. Damit möchte ich das Leid der Anruferin in keiner Weise schmälern, aber hier geht's ja erstmal um Dich.


    Zitat

    Ich bin ja keine Psychologin und habe nicht studiert, wie man sich in solchen Fällen verhält.

    Nun, Du hast die Ärmste zum Reden gebracht bzw. sie von unwiderruflichen Schritten abgehalten, innerhalb kürzester Zeit Hilfe organisiert und wahrscheinlich keine Sekunde lang versucht abzuwiegeln à la "Wird schon, nun machen Sie sich mal nicht ins Hemd, so schlimm ist das alles nicht" etc. etc. Wozu Studium? In meinen Augen hast Du das doch tadellos hingekriegt, wenn Du die in diesem Fall etwas unpassende Wortwahl gestattest.


    Zitat

    aber heute habe ich mich das erste Mal gefragt, ob dieser Job wirklich das richtige für mich ist.

    Was Deine kommunikativen und emotionalen Fähigkeiten betrifft: Mit Sicherheit. Dass Du hingegen solche Extremsituationen nicht alle Tage ertragen kannst, glaube ich Dir gerne, damit bist Du, denke ich, ganz sicher nicht allein.


    Mein Vorschlag: Lehn' Dich jetzt erstmal zurück und lass' das Ganze übers Wochenende sacken. Meiner bescheidenen Meinung nach hast Du Dich großartig verhalten, kompetent und vor allem sehr effektiv; vielleicht hilft Dir das ja, Deinem Beruf am Montag mit frischer Kraft nachzugehen?


    Ich wünsche Dir ein erholsames Wochenende, sei nett zu Dir, Krisenmanagerin.


    Liebe Grüße, Ragna

  • Zitat

    Meiner bescheidenen Meinung nach hast Du Dich großartig verhalten, kompetent und vor allem sehr effektiv;

    Liebe Ragna,


    das finde ich SO WAS VON NETT, was Du da sagst. Ehrlich. Vielen Dank.


    Zitat

    Nun, Du hast die Ärmste zum Reden gebracht bzw. sie von unwiderruflichen Schritten abgehalten, innerhalb kürzester Zeit Hilfe organisiert und wahrscheinlich keine Sekunde lang versucht abzuwiegeln à la "Wird schon, nun machen Sie sich mal nicht ins Hemd, so schlimm ist das alles nicht" etc. etc. Wozu Studium? In meinen Augen hast Du das doch tadellos hingekriegt, wenn Du die in diesem Fall etwas unpassende Wortwahl gestattest.

    So habe ich das noch gar nicht gesehen. Es ist ja mein Job - ich muß das ja machen (können).Denke ich jedenfalls.


    Das hatte ich nur noch nicht so verinnerlicht. (Mache das erst seit September 2003)


    Also, vielen lieben Dank für die netten Komplimente!!! Das ist echt lieb.


    LG
    AlexP.

  • Hast du sehr gut gemacht, Alex :) ! Ein Psychologe hätte es wahrscheinlich auch nicht besser machen können.


    Und dass du dich danach fertig fühlst, ist doch klar. Das muss ein enormer Druck gewesen sein, unter dem du standest. Hut ab vor dieser Leistung.
    Solche Leute wie dich müsste es viel öfter in psychologischen Praxen etc. geben.


    LG, Simone.

  • Liebe Alex,


    Du hast genau das getan, was in dieser Situation gebraucht wurde! Und dafür braucht man keine Ausbildung - nur Mitgefühl und Menschlichkeit! Und das meine ich jetzt auf keinen Fall irgendwie abwertend!
    Und dass Du geschlaucht warst, ist völlig normal, weil Du Alles gegeben hast!


    Solche Gespräche sind kräftezehrend....


    Wenn ich ein derart intensives Gespräch führe, bin ich hinterher auch immer total ausgelaugt und das, obwohl ich Profi bin!


    Ganz große Klasse, Alex!


    stübbken

  • @ Rubinchen


    Danke, für Deinen Zuspruch!! Das ist nett.


    @ Stübbken


    Ja, es hat mich völlig geschlaucht, weil Du diese intensiven Gefühle, die die Person am anderen Ende hat, volle Kanne aufnimmst. (Geht mir jedenfalls so - ich bekomme die Vibes voll ab)Und ihre Verzweiflung war für mich absolut spürbar (auch durchs Telefon).


    DAS war´s, was mich so mitgenommen hatte.


    Dir auch ein herzliches Dankeschön für den zuspruch!!


    LG
    AlexP.
    *Diewiedernachgenügendschlafzuihreraltenformgefundenhat*
    *unddankeuchnatürlich*


    PS: Was meinst Du mit "Profi"??? *nachtigallickhör´dirtrapsen* :D

  • Ich hatte auch schon solche Telefonanrufe bei der Arbeit.
    Du musst lernen, Dich abzugrenzen. Du hast Dich richtig verhalten, Du hast getan, was Du konntest in diesem Moment. Und mehr als viele andere machen würden. Aber was die Person nach dem Gespräch mit ihrem Leben mach, darauf hast Du keinen Einfluss. Diese Verantwortung musst und darfst Du nicht übernehmen. Es liegt nicht in Deiner Macht.
    Ich würde Dir empfehlen, mit Deiner Chefin mal über eine Supervision zu sprechen. Jemand aussenstehender, neutrales, der mit Dir solche und andere Zwischenfälle bespricht und Dir hilft, Bewältigungsstrategien zu entwickeln.

  • @ Choulette


    Zitat

    ch würde Dir empfehlen, mit Deiner Chefin mal über eine Supervision zu sprechen

    Ich werde auf jeden Fall am Montag mit ihr sprechen, da ich das Gefühl hatte (habe), daß sie mich ihre Arbeit hat machen lassen.


    Versteht mich nicht falsch - ich bin froh, der Dame geholfen zu haben.(Und ich würde es wieder tun - das ist nicht der Punkt) ABER es ist nicht MEIN Job!!!


    Meine Chefin kam nämlich zwischendurch rein und ich habe ihr einen Zettel hingehalten auf dem stand, was los ist und sie hat NULLINGER drauf reagiert. ("Mmh..tja, was machen wir denn da. Kann sie herkommen -nein??, Ja, weiß ich jetzt auch nicht..." WAS SOLL DAS?? )


    Ich habe mich von ihr ziemlich im Stich gelassen gefühlt. Wißt Ihr, wenn jemand in eine Arztpraxis kommt, der aussieht als hätte er einen Herzinfarkt/Schlaganfall oder so, dann kommt der ARZT und sieht sofort nach der Person. Die Helferinnen gehen dem Arzt zur Hand und assistieren aber sie machen nicht DEN JOB VOM ARZT!!!


    Und das geht nicht. Da müssen wir eine andere Methode finden (z.B. das ich in solchen Notfällen sie aus der Behandlung holen kann oder das sie mir - wie Choulette schon sagte - Verhaltensregeln an die HAnd gibt)


    Vielen Dank noch mal in die nette Runde fürs Ohr leihen.


    LG
    AlexP.

  • Zitat

    Hast du sehr gut gemacht, Alex

    Das meine ich aber auch!!


    Ansonsten denke ich, wird eine "Einweisung" in Form von "Verhaltensregeln" kaum helfen, weil du intuitiv weißt, was du tun musst. Klar, es bringt dich an die Grenzen. Aber das täte es auch mit einem ausgklügelten "Was-ich-im-Notfall-sagen-muss-Plan", der nie auf individuelle Probleme eingehen kann.


    *Däumchendrück,dassnichtmehrvieledieserErlebnissekommen*

  • hallo alex,
    zuerstmal - find ich echt klasse wie du das gemacht hast, manchmal ist es sogar besser wenn jemand der "helfen will" nicht studiert hat sondern so aus dem "bauchgefühl" reagiert.
    Das dich solch eine "sache" (weiß es gerad net besser aus zu drücken) erstmal völlig umhaut find ich normal, würd wohl jedem menschen der zu "mitgefühl" imstande ist (was durchaus einigen studierten gerade auch "helfern" fehlt) so gehen.
    Aber seh doch mal das Positive daran:
    DU - und nur du allein! - hast es geschafft für diese Frau das "überleben" für einige Zeit zu sichern, natürlich hast du ihr nicht "ihr grundproblem" abnehmen können, aber wer hätte das überhaupt gekonnt? - NIEMAND!
    Ich persönlich find DU hast echt super reagiert:)
    liebe grüße & ein erholsames wochenende,
    cailly

  • hallo alex,
    ich hab sowas studiert (sozpäd) und kann dir ganz ehrlich sagen, dass es kein patentrezept für solche situationen gibt. soziale kompetenz kann man nicht studieren, das hat man oder nicht. und du hast das gut gemacht. in dem moment war es für diese frau wichtig das sie reden kann und ihr jemand zuhört. und das hast du doch super gemacht. ich denke du solltest mal mit deiner chefin reden und fragen ob du einen fortbildungskurs in sachen gesprächsführung oder sowas machen kannst, weil du bestimmt noch öfter mit ähnlichen situationen in diesem job konfrontiert werden wirst.

  • DANKE * DANKE * DANKE *


    Euch allen ein herzliches Dankeschön für das nette Feedback, das ich von Euch bekommen habe.


    Aber es ist mir jetzt doch e weng peinlich. Wollte mich hier nicht in den Himmel loben lassen, gelle.


    I was NOT fishing for compliments!!!
    Aber ich denke, das habt Ihr auch nicht gedacht.


    (Hach, das anerkennen der eigenen erbrachten Leistung muß die liebe Alex erst noch lernen.Aber sie arbeitet dran )


    Also...
    ganz liebe Grüße in die Runde von
    AlexP.
    *diesichihremsonntagsfrühsprotprogrammwidmenmuss* :D :D

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