Vorurteile -> Schuldfrage -> nötig?

  • Mir ist es egal,warum jemand dick ist. Ich frage ja auch nicht,warum jemand dünn ist,klein ist oder groß ist.

    Aber ich frage mich selber warum ich dick geworden bin ohne es richtig zu bemerken. Warum ich mich selber immer noch so sehe wie vor 12 Jahren und erstaunt bin wenn ich mich im Spiegel sehe. Das interessiert mich einfach.

  • Zitat von Cailly

    also die Ausgangsthese beruht darauf das dem Verinnerlichen des falschen Vorurteils *...* irgendwann die Frage nach der Schuld - das infragestellen der "eigenen Schuld" folgt - was auch zwangsläufig zu Bewertungen in Bezug zur "Schuldfrage" führt.

    Also, das ist, denke ich, quasi schon zwangsläufig der Fall. Wer davon ausgeht, dass sich das Körpergewicht zu 100 % durch Willen und Verhalten beeinflussen lässt, wird selbstverständlich, wenn man ihn nach Ursachen für Übergewicht fragt, Versäumnisse, Willenlosigkeit und falsches Verhalten angeben. Und dieses Verhalten auch schuldhaft finden, weil man ja durchaus anders könnte, wenn man nur ausreichend wollte. Nicht "das richtige" Ernährungs- und Bewegungsverhalten an den Tag zu legen, obwohl man könnte, ist dann ganz eindeutig eigenes Verschulden.

    Zitat

    und ob eine Bewertung der Schuldfrage überhaupt nötig bzw. sinnvoll ist?

    Meiner Meinung nach kann man bei Übergewicht höchstens von Verantwortung reden, aber nicht von Schuld. Schuld zuzuweisen, ob nun sich selbst oder anderen, ist in meinen Augen kein sehr konstruktiver Akt. Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass ein Energiebilanz-Anhänger das sehr sinnvoll fände, im Sinne von "Man muss einsehen, dass man ganz allein Schuld hat, erst dann kann man "das Richtige" tun.

    Zitat

    Ja und dann noch die Frage wieso sonst (wenn dem nicht so ist) diese Unterscheidungen in Bezug auf das "Dicksein" bzw. die Bewertungen gerade unter Betroffenen aufkommen.

    Weil Dicke keine besseren Menschen sind und genau wie andere Menschen hin und wieder das Bedürfnis haben, sich selbst aufzuwerten, indem sie andere abwerten. Zumal ja mangelndes, der Aufpolierung bedürftiges Selbstwertgefühl unter Dicken durchaus verbreitet ist. Dicke, die andere abwerten wollen, müssen da allerding etwas kreativer sein als andere Menschen, denen es schon genügt, einen anderen eine "fette Sau" zu nennen. Weil, das ist man ja im Zweifelsfall dann auch selbst. Also greift man zum gängigen Vorurteil und nennt die anderen Dicken disziplinlos, faul und verfressen, während man selbst ein unschuldiger und damit besserer Dicker ist. (Ganz Schlaue nehmen dann übrigens andere Gesichtspunkte als die Körperform und werten andere als dämlich und niveaulos und ungebildet und asozial ab. Das Prinzip bleibt dabei allerdings dasselbe.)

  • Ich habe den Thread überflogen und stimme Herrn Schlämmer weistestgehend zu.


    Ich habe mich zitlebens mit meinem Gewicht auseinandergesetzt. Meistens mit schlechtem Gewissen, getrieben durch viele Spötteleien meiner Umwelt, Ausgrenzung, permanenten Ermahnungen meiner Mutter, etc.


    Ich habe die Schanuze voll davon als minderwertig betrachtet zu werden, weil ich nicht den Six Pack Bauch des Schönlings aus der Coolwater Parfüm-Werbung habe!!!


    Und nun zu Deinem Eingangsposting:


    Wenn ich mal in die große Psychokramkiste greife, dann entsinne ich mich bei Koryphäen des Fachs gelesen zu haben, daß Menschen häufig versuchen den Normen und Wertvorstellungen einer sozialen Gruppe gerecht zu werden. Natürlich gibt es immer Leute, denen ihre eigene Individualität wichtiger ist als der Mainstream.


    Aber die Konformität, das Anpassen an progagierte Verhaltenmuster dient als Kriterium wer dazu gehört und wer nicht.


    Vor den beiden Weltkriegen war alles einfacher (aber nicht besser oder schöner). Die Gesellschaft war hierarchisch aufgebaut, unten Tagelöhner, dann Arbeiter, Bauern, Handwerker, Bürger, Akademiker, Unternehmer, Großgrundbesitzer, Offiziere und Adelige, an der Spitze die regiernden Fürsten mit dem Kaiser (1871-1918) an der Spitze.


    Die Sozialmilieus waren weitgehend undurchlässig. Man wurde in eine Schicht (Klasse) hineingeboren und blieb dort bis zum Tod.


    Innerhalb der Schicht gab es zu fast allen Lebensbereichen feste Vorstellungen, wie man sich verhalten soll, was sich gehört und was nicht, was erstrebenswert, gut und richtig ist.


    Heute hat sich das weitgehend aufgelöst. Im Prinzip kann jeder so leben wie er will, wenn er damit nicht in Konflikt mit den Gesetzen gerät. Es gibt kaum noch allgemein akzeptierte Wertvorstellungen. Verhaltensnormen müssen immer wieder im aktuellen Lebenskontext neu ausgehandelt werden.


    Wenn sich die Prägekraft der Religion und der politischen Ideologien nach 1945 zu einem großen Teil verschwunden ist, bleibt ein Vakuum.


    Das muß jeder für sich füllen, indem er für sich selbst den Sinn des Lebens bestimmt. Diese Freiheit schafft aber auch große Verunsicherung.


    Jeder möchte beliebt sein, dazugehören, Freunde haben. Eltern wollen für ihre Kinder den besten Start ins Leben.


    Wir leben in einer Zeit, in der das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit nur noch historische Erinnerung ist. Es gibt Millionen Arbeitslose, Rentenkürzungen, Gesundheitsreformen, die nur als Sozialabbau zu bezichnen sind.


    In dieser Situation findet eine ganz subtile Auslese statt. Nur diejenigen die sich möglichst perfekt anpassen, können sich noch sicher sein einen Top - Job zu bekommen, finanziell unabhängig zu sein.


    Also schicken Eltern bereits Vorschulkinder in die musikalische Früherziehung, zum Babyschwimmen, später in 1000 andere Freizeitaktiviäten. Man kontrolliert den Umgang der Kinder ("Spiel nicht mit den Schmuddlekindern"), sorgt sich, daß sie auf die richtigen Schulen kommen (geringer Ausländeranteil), man zieht sie mit Markenklamotten an und möchte vermeiden, daß sie dick und ausgegrenzt werden.


    Denn da greift dann das gesellschaftliche Vorurteil: Dicke sind häßlich, langsam, irgndwie ein bißchen retardiert, sie bewegen sich unbeholfen, sind häufig nicht so selbstbewußt, leisten weniger, haben häufigr psychische Probleme, machen Schrierigkeiten und sind häufiger krank. Wer will schon so sein?


    Und das eigene Kind sollte sich durch solche Looser nicht runterziehen lassen. Ich kenne etliche Mittelschichtfamilien wo man sich so verhält und denkt. Natürlich würde diese Eltern das nie so offen zugeben, aber zu vorgerückter Stunde nach ein wenig Rotwein, wird es verschämt und sich selbst entschuldgend zugegeben.


    Die Kinder spüren auch das was nicht offen ausgesprochen wird. Sie verinnerlichen diese Wertvorstellungen und grenzen selbst andere Kinder aus.


    Dann kommt die Pubertät. Da war wohl noch nie leicht. Man verändert sich körperlich, verliert das Interesse an den alten Kinderspielen, merkt das man seinen Weg unabhängig von den Eltern suchen muß. Man sucht seine eigende Identität, kämpft mit der erwachenden Sexualität und interessiert sich logischerweise sehr stark dafür, wie andere über einen denken. Nicht umsonst muß man als Erwachsener nicht mehr so "cool" sein als mit 16.


    Und dann kommt die "Bravo", "Viva", "MTV". Wenn Du dazugehören willst, mußt du schlank sein, knackig, durchtrainiert sein, den richtigen Style haben, die richtige Musik hören, angesagte Klamotten tragen und hippe Freunde haben.


    Und das funktioniert ganz hervorragend. Der Industrie gehts ums Geldverdienen.


    Ich habe es auch nicht anders erlebt. Ich war pummelig, interessierte mich nicht für Fußball, las viel, kannte die Charts nicht und trug uncoole Klamotten. Logo: Ich gehörte nicht dazu und war in keiner Clique.


    Dann verliebte ich mich in eine sehr attraktive Mitschülerin. Ich nahm ziemlich viel ab, um ihr zu gefallen und war dann bis zum Abitur mit ihr zusammen. Um dazuzugehören fing ich an mich für die Charts zu interessieren, kaufte neue Klamotten und fing an die Sportschau zu kucken.


    Und auf einmal wurde ich Kurssprecher, kriegte Partyeinladungen, Leute bemühten sich mir zu gefallen.


    Was für ein Heiliger hätte ich denn da sei müssen, um zu sagen, daß ist alles nur oberflächlich?


    Was kann man tun?


    Gegen gesellschaftliche Vorurteile hilft nur das persönliche Beispiel, das Engagement im eigenen Umfeld.


    Gegen Benachteilungen muß man sich wehren. Bei Ärzten und Ämtern.


    Man muß sich mit seinen Gefühlen und der eigenen Biographie beschäftigen, um die Verletzungen zu heilen und selbstbewußter zu werden.


    Man sollte sich Menschen suchen, die einem gut tun und die anderen links liegen lassen.


    Es kann nicht schaden sich über Ursachen und gesundheitliche Auswirkungen es Dickseins zu informieren und das immer wieder konsequent von Ärzten zu fordern. ("Steter Tropfen hölt den Stein")


    Innerlich loslassen ist wichtig. Soll ich mit 75 Jahren auf mein Leben zurückblicken und erkennen, daß ich immer versucht habe den Schönheitsidealen anderer gerecht zu werden, daß ich versucht habe jemand zu sein, der ich nicht bin? Nein, nein und nochmals nein.


    Soweit der Roman zum Wochenende.

  • Irgendwie erinnert mich diese Schuldfrage immer so ein bißchen an Steuerbetrug. Beim Steuerbetrug kommt die Schuldfrage auch nur auf den Tisch, wenn jemand erwischt wird. Betrügt er ungeschoren, dann wird er auch nicht bestraft.Genauso ist es beim Dicksein auch. Dünne Menschen können sich genauso ungesund ernähren oder keinen Sport treiben wie Dicke. Aber man erwischt sie nicht bei ihren "Untaten". Sie werden daher mit ihrem "Fehlverhalten" nicht konfrontiert und fühlen sich auch nicht schuldig. Wohingegen Dicken oftmals ein Fehlverhalten unterstellt wird und sie sich oft generell schuldig fühlen.

  • Zitat von Werner

    Wenn ich mal in die große Psychokramkiste greife, dann entsinne ich mich bei Koryphäen des Fachs gelesen zu haben, daß Menschen häufig versuchen den Normen und Wertvorstellungen einer sozialen Gruppe gerecht zu werden.

    Das ist sicherlich richtig. Jedoch gehst Du, meiner Meinung nach zu Unrecht, davon aus, dass es entweder gar keine Normen und Wertvorstellungen gibt, oder aber nur einheitliche, um nicht gar zu sagen: gleichgeschaltete.

    Bedenke dabei insbesondere die Pubertät. Ja, sicher, es gibt sie, die soziale Gruppe der Bravoleser, die Charts hören, schlank sind und coole Klamotten tragen. Allerdings ist die Pubertät auch nicht umsonst die Zeit, in der man sein Verhältnis zu Normen, Werten und bestimmten Gruppen überdenkt und definiert.

    In der sozialen Gruppe, in der ich mich zu Teenagerzeiten befunden habe, hätte man die beschriebenen Teens als Hohlbirnen ausgeschlossen. In dieser Gruppe diskutierte man über Schopenhauer, hörte Wave und Gothic, kleidete sich existentialistisch *g* und verachtete alles, was sich anpasste und versprach, einmal ein Reihenhausbesitzer zu werden.

    Natürlich war auch das ein Anpassen an Normen der Gruppe, unbestritten. Nur: Der Gruppen, der Werte, der Normen gibt es viele. In der Pubertät und später, zum Glück, auch noch. Und dazu braucht man nicht einmal eine ständische Klassengesellschaft.

    Das hast Du doch gesagt? Stichwort Beliebigkeit der Werte? Stimmt, hast Du gesagt. Du hast aber auch gesagt, es gebe sie durchaus, die Normen und Vorstellungen, an die man sich unbedingt anpassen wolle, und SChlanksein scheint dabei ein sehr absoluter, restriktiver Wert zu sein. Vielleicht kannst Du mir diesen Widerspruch ja erklären?

  • Moin Zusammen,
    sorry wenn ich jetzt etwas off topic werde, aber es gibt da einiges was ich anmerken möchte...


    @ Werner:
    du hast da so einiges Geschrieben, wo ich was drauf antwroten möchte.

    Zitat

    Gegen Benachteilungen muß man sich wehren. Bei Ärzten und Ämtern.

    Da diese Benachteiligungen mitlerweile Standart sind, gehört ne große Menge Kraft, Mut und Selbstvertrauen sowie Geduld dazu. Wer eines davon nicht hat, wird sich auch nicht wehren. Wie oft hast du sowas schon durchgezogen und über welche Zeiträume? Mein bisher längster Kampf um einen Merhbedarf wegen kostenaufwendigerer Ernährung (wegen Allergien!) läuft mitlerweile seit 5 Jahren....


    Zitat

    Man muß sich mit seinen Gefühlen und der eigenen Biographie beschäftigen, um die Verletzungen zu heilen und selbstbewußter zu werden.


    Nun auch das ist vielmals nicht so einfach wei du es hier schreibst - mein Motto dazu kennst du ja sicher (SIgnatur) achja nebenbei muss man ja schon obiges erledigen - ob da noch genug Kraft bleibt um die eigene Biographie mit Traumatisierungen auf zu arbeiten steht auf einem anderen Blatt.


    Zitat

    Innerlich loslassen ist wichtig

    es kommt erstmal darauf an zu erkennen was man loslassen will/sollte.


    Zitat

    Gegen gesellschaftliche Vorurteile hilft nur das persönliche Beispiel, das Engagement im eigenen Umfeld.


    Stimmt, aber das wirkt dann eben auch nur in diesem eigenen kleinen Umfeld....leider


    Liebe Grüße,
    Cailly

  • Zitat von Gloriaviktoria

    Wenn wir in einer Gesellschaft leben würden, in der Dicksein das angestrebte Ideal und Vorbild für alle ist, würden Dicke bestimmt nicht nach der "Schuld" suchen. Denn dann ist es normal, dick zu sein.
    Dann würde es aber umgekehrt die Dünnen treffen, egal aus welchem Grund sie dünn sind.


    Darüber hatte ich letztens eine sehr schöne Diskussion mit meinem Vater, als wir die Sendung gucken in denen Eltern vorgeworfen wird, das sie ihre Kinder durch "falsche" Ernährung umbringen...
    Wir kamen zu dem Schluß, wäre das Ideal der Gesellschaft dick zu sein würden diese Sendungen genau anders herum sein, also es würden dünne/normalgewichtige Kinder gezeigt und ihren Eltern vorgeweorfen das sie ihre Kinder "umbringen", wenn sie nicht dafür sorgten das diese dick werden.


    Und was die Schuldfrage angeht:
    Who cares? Die Frage nach der Schuld ist schon sehr manipulativ und selbstzerstörerisch! Denn die Frage nach der Schuld ist doch letzten Endes ein verlangen Gewalt(meistens physische) auszüben, weil man selber welche erleiden musste.

    "D' you breath the name of your saviour in your hour of need,
    n' taste the blame if the flavor should remind you of greed,
    of implication, insinuation and ill will, till' you cannot lie still..."
    - Poets of the Fall - Carnival of Rust

  • Moin Patrox,


    Zitat

    Denn die Frage nach der Schuld ist doch letzten Endes ein verlangen Gewalt(meistens physische) auszüben, weil man selber welche erleiden musste.


    Ich glaub da siehst du was falsch - es sind selten die Menschen die schon Gewalt erleiden mussten die Verlangen oder das Bedürfniss empfinden Gewalt gegen andere (auch nur psychische) aus zu üben.
    Es sind Menschen die damit noch nie Konfrontiert wurden bei denen dieses Verlangen so groß ist.


    Und was die Ernährungsfrage betrifft:
    es gibt keine gesunde schlankmachende Ernährungsform für Jeden/Alle!
    Genauso wenig wie es früher mal gelungen wäre zu magere Kinder dicker zu machen, genausowenig gelingt es Heute die moppeligen Kinder schlank zu machen - nur wird es heute (eine Lüge) als Tatsache verkauft, obwohl es nicht funktioniert.


    Liebe Grüße,
    Cailly

  • Zitat von Rieke

    Sind da nur die etwas Moppeligen nur ein bisschen zu faul und gefräßig und die richtig Dicken durch richtige Krankheit entschuldigt? Sind die gering bis mäßig Übergewichtigen überhaupt übergewichtig - gemessen nicht am Schönheitsideal sondern an den Spezifika unserer Art? Und müsste eine überhöhte Energiezufuhr, die zur stetigen Gewichtszunahme führt, nicht immer pathologisch sein?

    Weißt du, ich sehe das ähnlich, vielleicht nur anders herum.


    Wenn man sich die digitale dicke Landschaft so anschaut, so kommt man manchmal auf den Gedanken, dass ein Dicker aus so ziemlich allen Gründen dick sein darf, nur nicht einfach deswegen, weil er zuviel gegessen hat oder (wofür es 1000 andere Gründe gibt als reine Bequemlichkeit) sich zu wenig bewegt. Warum nicht? Ganz einfach: Niemand will dem verbreiteten Klischee entsprechen, was auch verständlich ist. Schließlich weiß ich selbst sehr gut, was für ein Scheißjob es ist, sich ständig gegen dieses Klischee wehren zu müssen. Auch bei mir greift es nicht im mindesten. Andererseits kann man sich aber auch fragen: Warum muss ich das eigentlich....? (<=So klein und unscheinbar diese Frage auch ist, so wichtig ist sie auch. Finde ich.)


    Manchmal hat man den Eindruck, dicke Menschen reagieren fast pavlovesk auf bestimmte Vor- und Einwürfe, selbst diese gar nicht gemacht wurden oder werden, sondern nur möglich wären. Zur Prophylaxe, sozusagen. In einem anderen Forum gibt es einen Paradethread, in dem man das sehr gut beobachten kann. Hat uns die Gesellschaft, unser persönliches Erleben schon so deformiert, dass viele auf diese Weise reagieren? Ich glaube dieser Satz:


    Zitat von Werner

    Innerlich loslassen ist wichtig.

    hilft da weiter. Seit dem ich das kann, und ich kann es ehrlich gesagt noch nicht lange und auch nicht immer, bin ich viel gefeiter gegen das, was um mich herum passiert. Das, was andere sagen und denken, spielt vielfach eine viel zu kleine Rolle, als dass man sich davon verrückt machen lassen muss. Aber zu diesem Schluss muss man erstmal gelangen und der Weg dahin ist weit.



    Nicht, dass wir uns falsch verstehen; ich habe nicht vor die "Richtigkeit" der Ursprungsthese zu untermauern. Nichts läge mir ferner als das. Dazu weiß ich zu viel und habe auch zu viel gesehen und gelesen. Ich finde nur, dass man auch das denken und äußern können darf, als eine Variante von vielen, vielen anderen, ohne das sich der Aussprechende oder der Betroffene gleich schlecht fühlen muss.


    Zitat von Rieke

    Ich finde nicht einmal, dass das gefragt werden darf. Jedenfalls nicht so allgemein - nur vom behandelnden Arzt und dem Betroffenen selbst.

    So sehe ich das auch.


    Zitat

    Aber das halte ich auch für das Problem des diskutierten Vorurteils: Es entsteht ein Rechtfertigungsdruck bishin zum Seelenstriptease. Und diejenigen, die bereit sind, neben Faulheit und Gefräßigkeit andere Ursachen von Übergewicht (i.d.R. Krankheiten) gelten zu lassen, halten sich darob bereits für einen Ausbund an Toleranz (*Nicht Sie, Herr Schlämmer, die von Ihnen angestoßene Ursachendiskussion hat mich lediglich zu diesen Überlegungen bewogen!*). Dabei ist es schlicht und einfach übergriffig, einem anderen Menschen zu erklären, dass dessen Figur ein Problem sei, und ihn dann auch noch mehr oder weniger zu nötigen, die Ursachen des Problems offenzulegen - jedenfalls, wenn der Betroffene nicht als selbst schuld, faul und gefräßig gelten will.

    Rechtfertigungsdruck? Vielleicht. Aber in meiner Vorstellung von der idealen Welt ;) passiert das nicht. So wie ich es sehe, ist es doch richtiger, wenn ein Arzt nicht gleich bei jedem adipösen Patienten die "Faul-Bequem-Doof-Karte" zieht, sondern wirkliche Ursachenforschung betreibt. Das ist es doch, was wir hier wollen. Ich sehe eben eine umgekehrte Beweislast: Wenn ich ein Problem mit meinem Gewicht habe, dann muss ich nicht zum Arzt gehen und z.B. sagen müssen "Aber ich könnte doch auch essgestört sein...", sondern der Arzt oder an wen man sich auch immer wendet, sollte dies gleich von Beginn an in betracht ziehen (können). Zumal gerade bei den Essgestörten die meisten anfänglich nur wissen, dass bei ihnen irgendetwas schief läuft, aber nicht was es ist.


    Dafür, dass ich mich aber vor anderen aufbauen muss, um ihnen zu erklären, warum ich jetzt genau dick bin, bin ich allerdings gar nicht. Rechtfertigungsdruck? Ich sehe gar keine Rechtfertigungsnotwendigkeit.


    Dieser Teil deines Romans kommt mir sehr bekannt vor. Bei mir gab es ein paar andere Protagonisten, ein etwas anderes Umfeld, das Erlebte ist jedoch das gleiche.


    Zitat

    Man muß sich mit seinen Gefühlen und der eigenen Biographie beschäftigen, um die Verletzungen zu heilen und selbstbewußter zu werden.

    Sehr richtig, sehr wichtig.









    Ich wage es ja kaum zu sagen, aber dies ist seit langer, langer, langer, also wirklich verdammt langer Zeit mal wieder ein Thread, der mich zumindest ein Stück weit hinter dem Ofen hervor lockt. Hier wird´s gerade interessant. Gefällt mir.

  • Moin Herr Schlämmer,


    freut mich das dieser Thread dich hinter dem Ofen hervorlockt :D


    Eins find ich etwas merkwürdig, du schreibst:

    Zitat

    Nicht, dass wir uns falsch verstehen; ich habe nicht vor die "Richtigkeit" der Ursprungsthese zu untermauern. Nichts läge mir ferner als das. Dazu weiß ich zu viel und habe auch zu viel gesehen und gelesen. Ich finde nur, dass man auch das denken und äußern können darf, als eine Variante von vielen, vielen anderen, ohne das sich der Aussprechende oder der Betroffene gleich schlecht fühlen muss.


    Nun das ist recht simpel - dieses Vorurteil ist keine These sondern beansprucht aufgrund seiner Aussage als "einzige richtige Möglichkeit" richtig zu sein.
    Eine These die man im Rahmen einer Diskussion als "argument" gelten lassen könnte wäre:
    Aufgrund der Energiebilanztheorie müsste es so sein das Menschen die Zunehmen zuviel Essen und sich zuwenig Bewegen! - hier klingt es aber dann auch anders wie in dem Vorurteil, oder?


    Zitat

    Rechtfertigungsdruck? Vielleicht. Aber in meiner Vorstellung von der idealen Welt passiert das nicht. So wie ich es sehe, ist es doch richtiger, wenn ein Arzt nicht gleich bei jedem adipösen Patienten die "Faul-Bequem-Doof-Karte" zieht, sondern wirkliche Ursachenforschung betreibt. Das ist es doch, was wir hier wollen.


    Ach Herr Schlämmer, wie schön wäre diese Welt wenn sie diesen Idealen wenigstens ein wenig Nahe käme. *träum*
    Leider sieht jedoch die Realität ganz anders aus....*seufz*
    Gottseidank gibt es jedoch uns hier - das Forum und seine User und Moderatoren, eine kleine Gruppe die dabei ist die Realität zu verändern ;)


    Liebe Grüße,
    Cailly

  • Zitat von Herr Schlämmer

    Weißt du, ich sehe das ähnlich, vielleicht nur anders herum.

    Anders herum - wie soll denn das gehen? ;)

    Zitat von Herr Schlämmer

    Wenn man sich die digitale dicke Landschaft so anschaut, so kommt man manchmal auf den Gedanken, dass ein Dicker aus so ziemlich allen Gründen dick sein darf, nur nicht einfach deswegen, weil er zuviel gegessen hat oder (wofür es 1000 andere Gründe gibt als reine Bequemlichkeit) sich zu wenig bewegt. Warum nicht? Ganz einfach: Niemand will dem verbreiteten Klischee entsprechen, was auch verständlich ist.

    Irgendwie wollte ich sowas auch gesagt haben, weil den "Entschuldigungen" durch Krankheit immer wieder vorangestellt wird, dass der/die betroffene Dicke keinesfalls mehr, vielleicht aber noch viel weniger isst als ein beliebiger Normalgewichtiger. BTW bin ich auch der Meinung, dass man bei positiver Energiebilanz i.d.R. zunimmt - wobei die Gründe für ein solches Ungleichgewicht jedoch nicht in den Todsünden Völlerei und Trägheit zu suchen sind.

    Zitat von Herr Schlämmer

    Warum muss ich das eigentlich....? (<=So klein und unscheinbar diese Frage auch ist, so wichtig ist sie auch. Finde ich.)

    Hm, schon richtig, man weiß ja, wie's bei einem selbst aussieht, da muss man nicht notwendigerweise gegen Klischees angehen. Andererseits ist nicht jeder, der ein wenig unreflektiert solchen Klischees anhängt, ein Riesena****, auf dessen Meinung man getrost verzichten kann/sollte. Mancher Ratschlag ist gut gemeint, besorgt, gar liebevoll, wenn auch in den seltensten Fällen gut gemacht oder sinnvoll. Ich persönlich habe kein Problem mit "äußeren Anfeindungen". Nicht, dass ich unbedingt drüber stehen würde, es gibt zum Glück ganz einfach keine (persönlichen). Trotzdem: Wenn ich mich bei Familie und Freunden dazu bekenne, nicht glücklich über meine Figur zu sein, ernte ich nicht etwa liebevolles Verständnis und Anteilnahme, sondern Abspecktipps und Fremdanamnesen meines Ess- und Bewegungsverhaltens (ungebeten, denn ich diskutiere das nicht). Da geht es mir nicht darum, was sie von mir denken. Das sind Menschen, die mich lieben. Die sagen nichts Beleidigendes und wollen mich auch nicht abwerten. Nein, ein idiotisches Klischee bewirkt, dass ich in meiner emotionalen Verfassung bei mir nahestehenden Menschen gar nicht mehr ankomme, dass ich entweder die zufriedene Dicke gebe oder erkläre, warum ich trotz Unzufriedenheit ein Stück Kuchen esse (oder gar zwei). Ich pflege inzwischen - ggf. unter Verweis auf Pollmer - an dieser Stelle die Unsinnigkeit von Diäten zu nennen, was mir keiner glaubt und quittiert wird mit "Ach, hast du endlich das richtige Buch gefunden!" Aber ob ich nun meine Kalorienmenge, Krankheiten oder Anti-Diät-Gründe anführe, stets wird daraus eine (unnötige) Rechtfertigungssituation, die m.E. auf das dick-weil-faul-und-gefräßig-Vorurteil zurückgeht. Das kann einen als Betroffene/n ankratzen oder auch nicht, zur Verbesserung zwischenmenschlicher Beziehungen trägt es nicht bei...

  • Moin Zusammen,


    Riekes Post hat mich zumindest in einem Punkt echt sehr beschäftigt - diese "positive" Energiebilanz ....
    Damit würde man also dem Körper mehr Energie zur Verfügung stellen als er braucht - muss sich das dann nicht auch irgendwie bemerkbar machen? Müsste man sich nicht bei "positiver Energiebilanz" Topfit und Energiegeladen fühlen? Ich mein da liegt ja doch ein Problem das dem Wiederspricht gerade bei Übergewichtigen die tatsächlich "mehr Essen" (Ess-Anfälle) vor - die werden ja durch Schuldgefühle wieder "ausgebremst", was übrigens bei manchen Menschen tatsächlich Funktioniert da es durchaus "normalgewichtige" Menschen gibt die Trotz häufiger "Ess-Anfälle" nicht zu nehmen - wie kann das sein wenn doch diese "positive Energiebilanz" (das Überessen) eigentlich generell zu einer Zunahme führen müsste?


    Hm, vielleicht sollten wir diesen Punkt ja doch erstmal klären - in einem anderen Thread vielleicht?


    Nachdenkliche Grüße,
    Cailly

  • Zitat von Rieke

    Das sind Menschen, die mich lieben. Die sagen nichts Beleidigendes und wollen mich auch nicht abwerten. Nein, ein idiotisches Klischee bewirkt, dass ich in meiner emotionalen Verfassung bei mir nahestehenden Menschen gar nicht mehr ankomme

    Und das ist, finde ich, das Problem mit den Vorurteilen und den Klischees. Wenn man so fest daran glaubt, dass man die Menschen und ihr tatsächliches Befinden zu sehen gar nicht mehr in der Lage ist. Nicht mal dann, wenn man diese Menschen liebt und ihnen Gutes will. Sch*** Zeug, solche Vorurteile.

    Deswegen verstehe ich auch den Reflex, sich gegen dieses Vorurteil "faul und verfressen" zu wehren. Sehr gut sogar. Nur hilft es ja nichts, wenn dieser Reflex am Ende in andere Vorurteile mündet... Oder man glaubt, sich vor Hinz und Kunz rechtfertigen zu sollen. *Darüber*, denke ich, werde ich noch mal sehr gründlich nachdenken, deshalb "Danke" dafür.

  • Ich bin froh, dass ich diese Diskussion nicht verstehe :D . Ich weiss warum ich dick bin - ESSEN!!!!!!! Allerdings ist bei mir das Dicksein auch nicht das Problem. Insofern stellt sich in Bezug auf die Körperformen nicht die "Schuldfrage". Mein eigentliches Thema, das mein Leben bestimmt ist das Problem der "Esszwänge". Und da diese zur Zeit kaum vorhanden sind, geht es mir super gut.

    Ich mag meinen Körper, auch wenn das für andere kaum verständlich ist... ;)

  • Moin Panama,


    tja ich halte folgenden Satz von dir für sehr wichtig in Bezug auf diese Diskussion und eben auch in Bezug auf das Vorurteil:


    Zitat

    Ich mag meinen Körper, auch wenn das für andere kaum verständlich ist...


    Wobei genau die Einschränkung ist es die durch das Vorurteil entsteht.
    Warum sollte ein "dicker" Mensch seinen Körper nicht mögen, nicht in frieden mit seinem Körper leben können/dürfen?


    Wenn man wie ich auf Ärzte angewiesen ist (chronische Krankheiten gar hat) wird einem dieses Recht zum Beispiel aufgrund des Vorurteils abgesprochen - eben wegen dieser "Schuldzuweisung"...
    es wird einem Suggeriert das man "gegen den eigenen Körper und sogar gegen die eigenen Gefühle" ankämpfen muss weil man ja sonst "selbst an seinen Problemen" (die dann auch noch grundsätzlich auf das "dicksein" geschoben werden) Schuld ist.


    Weißt du, ich will doch nur meinen Körper mögen dürfen, mit ihm in frieden Leben dürfen, ohne das mir dieses Recht andauernd abgesprochen wird - wegen eines Vorurteils das bei mir ja zu 100% falsch ist.


    Nachdenkliche Grüße,
    Cailly

  • Zitat von Cailly

    diese "positive" Energiebilanz ....
    Damit würde man also dem Körper mehr Energie zur Verfügung stellen als er braucht - muss sich das dann nicht auch irgendwie bemerkbar machen? Müsste man sich nicht bei "positiver Energiebilanz" Topfit und Energiegeladen fühlen?

    Wenn für Essen und Energie gelten würde "viel hilft viel", dann vielleicht. Bei einem nach Homöostase strebenden System wie dem menschlichen Körper würde ich das aber nicht annehmen. Starkes Überessen wird i.d.R. als höchst unangenehm empfunden, geringere Überschüsse kann der Körper wohl besser wegstecken - da könnte Fett ansetzen durchaus eine optimale Anpassung sein. Es kann biologisch schon mal nötig sein, kalorienmäßig ein wenig zu überessen, um an die aktuell und individuell "richtigen" Nährstoffe in ausreichender Menge ranzukommen. So oder so wäre die Energiebilanz bei Weitem nicht der einzige oder wichtigste Regelmechanismus.

    Zitat von Cailly

    da es durchaus "normalgewichtige" Menschen gibt die Trotz häufiger "Ess-Anfälle" nicht zu nehmen - wie kann das sein wenn doch diese "positive Energiebilanz" (das Überessen) eigentlich generell zu einer Zunahme führen müsste?

    Ich würde nicht davon ausgehen, dass Essattacken oder "viel Essen" generell mit einer positiven Energiebilanz gleichzusetzen wären. Was der Körper mit dem vermeintlichen Überangebot macht, dürfte individuell höchst unterschiedlich sein.

    BTW fände ich die Frage nach der Energiebilanz nur dann interessant, wenn sie irgendwie zur Lösung eines Problems beitragen könnte, was sie jedoch nicht tut. Alles Weitere in "dem anderen Thread".

  • Zitat von Rieke

    Hm, schon richtig, man weiß ja, wie's bei einem selbst aussieht, da muss man nicht notwendigerweise gegen Klischees angehen. Andererseits ist nicht jeder, der ein wenig unreflektiert solchen Klischees anhängt, ein Riesena****, auf dessen Meinung man getrost verzichten kann/sollte.

    Da hast du sehr Recht. Und ich finde, es ist manchmal sehr, sehr schwer da zu differenzieren. Oder anders: Selbst die liebst gemeinte Fürsorglichkeit kann einem gehörig auf den Pinsel gehen. Vielleicht sogar gerade die, ich weiß es nicht.


    Ich reagiere zum Beispiel oft heftig darauf, wenn ich vor Menschen stehe, die zwar kein Wort über mein Gewicht oder mein Aussehen verlieren, aber dann plötzlich aus dem blauen Himmel heraus anfangen mit: "Sag mal, willst du nicht auch mal ins Fitnessstudio gehen/Sport machen/Schwimmen gehen, etc...." Gute Ratschläge durch die Hintertür, sozusagen. Ich könnte es vermutlich besser ab, wenn mir jemand sagt: "Hey, du bist fett, mach ma`Sport!"


    Zitat von Rieke

    Trotzdem: Wenn ich mich bei Familie und Freunden dazu bekenne, nicht glücklich über meine Figur zu sein, ernte ich nicht etwa liebevolles Verständnis und Anteilnahme, sondern Abspecktipps und Fremdanamnesen meines Ess- und Bewegungsverhaltens (ungebeten, denn ich diskutiere das nicht). Da geht es mir nicht darum, was sie von mir denken. Das sind Menschen, die mich lieben. Die sagen nichts Beleidigendes und wollen mich auch nicht abwerten. Nein, ein idiotisches Klischee bewirkt, dass ich in meiner emotionalen Verfassung bei mir nahestehenden Menschen gar nicht mehr ankomme, dass ich entweder die zufriedene Dicke gebe oder erkläre, warum ich trotz Unzufriedenheit ein Stück Kuchen esse (oder gar zwei).

    Ich finde, gerade die Familie ist da ein besonderer Faktor. Der Umgang in der Familie hat eine ganz eigene emotionale Qualität; oftmals springt man in alte Rollenmuster zurück, von denen man sich selbst schon längst emanzipiert sah. Wenn man dort in den emotionalen Pudding fällt, ist es ungleich schwerer adequat reagieren zu können, wenn jemand mit den bekannten Klischees um die Ecke kommt. Man selbst ist auch viel verletzbarer, vielleicht auch selbst verletzender als in einem anderen Umfeld. Gerade weil ja "alle nur Gutes für dich wollen", ist es schwer, damit vernünftig umzugehen.

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