Gestern bin ich nach dem Baden aus der Wanne gestiegen und habe mich einfach so nur mal angeschaut. Ich habe versucht, ohne Wertung meinen Körper (1,73 Größe, 108 Kilo) zu betrachten, und mir ist aufgefallen, dass mein Übergewicht eine Biographie hat. Eine Biographie, die mit den stressigen Zeiten in meinem Leben korreliert.
Ich war als Kind kräftig, aber nicht dick, trotz sexuellem Missbrauch. Ich habe schon immer gerne gegessen, aber weil ich den ganzen Tag draußen beim Spielen und Toben war, hat es nicht angesetzt. Geändert hat sich das, als mit 10 mein Leben aus dem Ruder gelaufen ist. Wir sind umgezogen und ich bin in eine weiterführende Schule gekommen, die ich gehasst habe. Ich war todunglücklich, wurde gemobbt, und habe 20 Kilo zugenommen, innerhalb von 1,5 Jahren.
Dann musste ich mit 12 Jahren in ein ärztlich verordnetes "Bootcamp" für Dicke in einer Kinderkurklinik. Dort habe ich 12 Kilo verloren, aber fragt nicht, zu welchem (psychischen) Preis.
Dann war ich relativ normalgewichtig, bis ich zu Arbeiten begonnen habe. Firma Schlecker, 70 Stunden Woche, keine Pausen. Ich war damals 18, und auch innerhalb von 1,5 Jahren ging mein Gewicht um 20 Kilo hoch.
Dann bin ich nach München gezogen und habe den Job gewechselt und war glücklich. Ich habe, ganz ohne Diät, 15 Kilo verloren. Einzig und allein, weil ich mich wohlgefühlt habe.
Dann kam ich auf die Schnapsidee, im Fitness-Studio bei einem Ernährungskurs mitzumachen, bei der uns gesagt wurde, Fett wäre schlecht und Kohlenhydrate gut. Also Fett weg und massive Kohlehydrat-Räusche. Ich habe zwar 4 Kilo abgenommen, aber durch das ständige Kontrollieren des Essens und das süchtige Essen bin ich in einer argen Bulimie gelandet.
Nach einem Jahr Hölle bin ich in eine psychosomatische Fachklinik, eine 12-Schritte Klinik gegangen und war dort 16 Monate. Dort habe ich gelernt, beim Essen einen Rhythmus einzuhalten, den ich 8 Jahre (bis ich schwanger wurde) befolgt habe.
Es folgten etliche Jahre mit Normalgewicht (73 Kilo). Im Nachhinein, wenn ich Fotos anschaue, bin ich ganz erstaunt und angetan, wie schön ich war. Damals habe ich aber immer gedacht, ich müsste noch weniger wiegen, um in dieser Welt bestehen zu können.
Dann der nächste Einschnitt: ich bin mit meinem jetzigen Mann zusammen gezogen. Ich habe immer viel Sport getrieben, und plötzlich sind wir händchenhaltend auf dem Sofa gesessen. Auch schön, aber verheerend, weil ich gleichzeitig anders gegessen habe (also plötzlich Käse auf die Nudeln, Croissants zum Frühstück, all das was ihm halt geschmeckt hat).
Das waren die ersten 10 Kilo.
Dann die autoimmune Schilddrüsenunterfunktion. Nochmal 10 Kilo in kürzester Zeit.
Dann Kind 1. In der Schwangerschaft habe ich fast nicht zugenommen, aber danach. Sie war ein Schreikind und ich war ziemlich überfordert. Bei ihr sind mir "nur" 4 Kilo geblieben.
Und dann die Krönung: Kind 2. Auch hier habe ich in der Schwangerschaft nicht zugelegt, sogar abgenommen. Einmal hat mir sogar der Frauenarzt gesagt, ich müsse mehr essen (:) so etwas hatte ich noch nie erlebt).
Aber danach kam die stressigste Zeit in meinem Leben. Ich war nach der Geburt schwer krank, hatte eine Firma mit einem 6-stelligen Jahresumsatz, ein Baby und ein Kleinkind, keine Hilfe durch meinen Mann. Ich will nicht jammern, aber Essen war das Einzige, was mich durch den Tag gebracht hat.
Außerdem bekam ich 2 verschiedene Medikamente gegen Epilepsie, die mich mächtig aufgebläht haben. Nicht zu vergessen, die Krankheit, die plötzlich auftauchte und mir ein großes Problem mit Histamin bescherte (Mastozytose). Histamin ist ein Botenstoff, der unter anderem den Schlafrhythmus und die Nahrungsaufnahme durcheinander bringt. Bilanz hier: 11 Kilo.
All das ist mir gestern durch den Kopf gegangen, als ich mich angeschaut habe. Und ich konnte mich gnädig anschauen, ohne das übliche Selbstabwerten. Oft hat mich das Essen vor dem Zusammenbruch bewahrt.
Das alles müsste man diesen Leuten, die einem Diäten oder irgendwelche Metabolic Programme verkaufen wollen, immer und immer wieder sagen. Die meisten Dicken, die ich kenne, essen nicht zuviel, weil sie nichts von gesunder Ernährung verstehen, sondern weil sie Stress-Esser sind, oder Hormonerkrankungen haben oder Medikamente nehmen müssen. Oder weil sie ihr Leben anders nicht auf die Reihe kriegen.
Ich habe mich in letzter Zeit sehr viel mit den verschiedenen Ursachen für Übergewicht auseinander gesetzt und bin der Meinung, dass JEDER, der sich anmaßt, in irgendeiner Form Übergewicht "therapieren" zu wollen, erst mal einen umfangreichen Kurs über Vorgänge im Körper, Neurotransmitter, Hormone, Infektionskrankheiten, Medikamente, Hirnforschung absolviert.
Habt Ihr auch Eckpunkte in Euren Leben, wo das Gewicht rauf oder runter ging?
Danke fürs Teilen.